Was Sprache ändern kann
Warum dieser Leitfaden?
Sprache ist das Mittel, mit dem wir die Welt und die Menschen um uns herum wahrnehmen und beschreiben. Durch unsere Sprache (einschließlich Wortwahl, Betonung, Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Emotionen und Distanz) vermitteln wir unsere Einstellungen, Überzeugungen und Werte.
Sprache hat das Potenzial, Menschen zu ermutigen. Sie ist aber auch ein mächtiges Instrument, um Menschen auszugrenzen und zu einer Gefahr zu erklären. Zum Beispiel in politischen Reden, in Zeitungen, anonym im Internet oder in persönlichen Gesprächen.
Eine entstigmatisierende Sprache trägt dazu bei, das Leben anderer Menschen positiv zu beeinflussen und den Umgang miteinander verbessern. Schon eine neutralere Wortwahl, die Drogengebrauch sachlich statt wertend beschreibt, sorgt für mehr Wertschätzung und Vertrauen.
Was ist Stigmatisierung? Und warum ist sie ein Problem?
Stigma heißt wörtlich „Wund-/Brandmal“. Stigmatisierung bezeichnet die Abwertung von Personen oder Gruppen aufgrund von Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die als unerwünscht gelten. Für die Betroffenen bedeutet dies Ausgrenzung, Vorurteile, Verallgemeinerungen und Diskriminierung – und ist im Zusammenhang mit illegalen Substanzen eng mit den Folgen der Kriminalisierung verbunden.
Die negativen Bilder über Menschen, die illegale Drogen nehmen, haben wir alle vor Augen – mal mehr, mal weniger bewusst. Wie sich Stigmatisierung konkret auswirkt, erlebt aber nur der Teil der Gesellschaft, der stigmatisiert wird.
Menschen, die illegale Drogen gebrauchen, sind sehr unterschiedlich. Ebenso wie die Bedingungen, unter denen sie leben. Die derzeitige Verbotspolitik trägt wenig dazu bei, eine Sprache zu entwickeln, die diese Vielfalt anerkennt. Stattdessen werden weiterhin negative Stereotype aufrechterhalten, die sie als unmoralisch, minderwertig, unzuverlässig oder gar gefährlich darstellen.
Auch das Gesundheitssystem ist für Menschen, die illegale Drogen nehmen, ein zentraler Ort der Stigmatisierung und Diskriminierung. Stigmatisierende Sprache trägt dazu bei, dass sich Menschen ungeschützt und unerwünscht fühlen. Dies kann sie darin hemmen, offen über ihren Drogengebrauch zu sprechen.
Aufgrund der Stigmatisierung fragen Menschen Therapieangebote zur Behandlung von Sucht manchmal erst an, wenn sich ihr gesundheitlicher Zustand stark verschlechtert hat. Stigma erzeugt also Hürden für den Zugang zu Behandlungen und anderen Gesundheitsdiensten.
Es gibt viele weitere Bereiche des alltäglichen Lebens, in denen Stigma zu konkreten Benachteiligungen führen kann. Zum Beispiel beim Kontakt mit der Polizei, vor Gericht, auf dem Wohnungsmarkt, in der ärztlichen Praxis, am Arbeitsplatz und in der Schule.
Wie funktioniert Stigmatisierung?
Je öfter uns negative Bilder über ein Verhalten vermittelt werden, desto eher glauben und verinnerlichen wir diese. Besonders als junge Menschen richten wir unser Verhalten an den positiven und negativen Erwartungen der Erwachsenen aus.
Eine Selbstbezeichnung mit diskriminierenden Wörtern erfolgt manchmal auch bewusst und gewollt. Dies sollte von Außenstehenden aber nicht missverstanden werden. Zum Beispiel kann die Bezeichnung „Junkie“ durch nahestehende, unterstützende Personen akzeptiert sein – ähnlich wie die Nennung von Kosenamen wie „Liebling“ oder „Schatz“ nur von manchen nahstehende Personen akzeptiert wird. Für Außenstehende bleibt das Wort „Junkie“ weiterhin ein Mittel der Stigmatisierung.
Stigmatisierung bewirkt des Weiteren: Menschen, die Erfahrungen mit illegalen Drogen und/oder Sucht haben, gelten als weniger kompetent und geeignet, um über eben diese Themen zu sprechen. Dies erschwert die Entstigmatisierung.
Gibt es ein „Richtig“ und „Falsch“?
Wir haben über mehrere Monate mit vielen verschiedenen drogenerfahrenen Menschen in Deutschland gesprochen. Alle kennen die gleichen Gefühle, Gedanken und Folgen von erlebter oder ständig drohender Benachteiligung und Ausgrenzung.
Welche Wörter genau oder besonders stark stigmatisieren, war oft nicht eindeutig zu benennen. Unter anderem, weil sich die Bedeutung von Sprache je nach Region, Generation, Situation und Sprecher*in unterscheidet. Sprache ist flexibel und die Bedeutung von Wörtern ändert sich mit der Zeit. Sich auf eine Sprache zu einigen, mit der alle einverstanden sind, ist realistischerweise kein erreichbares Ziel.
Es gibt aber Situationen, in denen bestimmte Formulierungen und Wörter eindeutig oder sehr wahrscheinlich entmündigen, ausgrenzen, verunsichern oder verletzen.
Wie spreche ich Sprache an?
Das Sprechen über Sprache ist ein Türöffner für Diskussionen über Drogengebrauch, Sucht und therapeutische oder politische Rahmenbedingungen. Die Reflexion über die Wortwahl birgt das Potenzial für weitreichende Diskussionen über den gesellschaftlichen Umgang mit (illegalen) Drogen und den Menschen, die sie nehmen.
Das alleinige Ersetzen von Begriffen, ohne eine Veränderung der Bedeutung, funktioniert im Zusammenhang mit Drogengebrauch und Sucht wahrscheinlich nicht.
Unsere Beispiele zeigen die Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit einzelner Begriffe.
Die 10 Grundsätze im Leitfaden erinnern an die Grundregeln von Respekt, Wertschätzung und Augenhöhe. Entstigmatisierung der Sprache bedeutet, den Umgang miteinander (und mit sich selbst) von der Bewertung des Verhaltens zu befreien und an grundlegenden Umgangsformen auszurichten.
Als stigmatisierte Person jemandem die eigene Wahrnehmung zu erklären und sich emotional zu öffnen, erfordert Mut und Kraft. Dieser Schritt birgt das Risiko, abgeblockt und (erneut) nicht ernst genommen zu werden.
Wer auf eine bestimmte Wortwahl aufmerksam gemacht wird, erhält die Chance, aus den Erfahrungen und Perspektiven von stigmaerfahrenen Personen zu lernen.